Eine Schreckensmeldung überzieht das deutsche Föhjetong: Der Neger wird abgeschafft! Die schreckliche Kunde erging vom Verlag des Kinderbuches „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler, der das Buch in einer Neuauflage überarbeiten will und Begriffe wie „Negerlein“ und „Neger“ streichen will. Darüber hinaus will der Thienemann Verlag alle seine Bücher durchforsten und sie entsprechend an den sprachlichen und politischen Wandel anpassen.
Es erhob sich aber ein Geschrei in den Tempeln der Literaturkritik und -bewahrung, damit werde Schindluder betrieben, Literatur umgefälscht und einer Zensur unterworfen. Wenn wohl meinende Eltern ihren Kindern die Klassiker der Kinderliteratur unverfälscht vorläsen, dann könnten sie ja wohl nebenbei erklären, dass man das heute so nicht mehr sagt. Komisch, denn fast hört man die Kritiker modernisierter, überarbeiteter Fassungen ihre Wehklage einleiten mit „Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“.
Da sieht man bereits die Kinderzimmer der Republik erfüllt mit linguistischen Lektionen und semantischen Sentenzen, wobei die zeitgemäßen Eltern immer die historisch-kritischen Gesamtausgaben zur Hand haben. „Moment, Schätzchen, ich muss mal eben zur Fußnote 47 vorblättern!“
Vergeht man sich an der Weltliteratur, wenn man sich weigert, Kindern Rassismus und Chauvinismus nicht mehr als Selbstverständlichkeit unterzujubeln? Unfug. Literaturkritiker und -wissenschaftler können ja gerne weiterhin die feinen editorischen Unterschiede zwischen der 23. Auflage (Leineneinband) und der 47. Auflage (Paperback) besprechen und erforschen. Es geht um Kinderbücher. Erwachsenen kann man zumuten zu bedenken, dass bestimmte Ausdrücke an ihre Entstehungszeit gebunden sind: während kaum jemand weiß, dass ein „Mohr“ im deutschen Sprachraum ursprünglich mal nichts weiter als ein Maure war, der erst mit der Zeit zum Synonym für einen dunkelhäutigen Menschen wurde, so weiß man doch eher, dass der „Mohr“ mal das war, was heute der „Neger“ ist. Soll nun etwa auch noch der „Mohr“ unter den deutschföhjetonistischen Sprachschutz gestellt werden?
Was man Kindern erzählt, sei es durch Familiengeschichten, überlieferte Verse oder eben Kinderbücher, kann durchaus prägend sein für das entstehende Weltbild eines kleinen Menschen. Wir halten es für selbstverständlich, dass wir heutzutage keine Kinderbücher mehr vorlesen wie etwa „Mutter, erzähl’ von Adolf Hitler!“ von Johanna Haarer. Im Internetarchiv http://www.archive.org kann sich jeder Interessierte das Machwerk im Faksimile anschauen. In der jungen Bundesrepublik erschien dieses Buch nicht mehr; ihre so genannten „Erziehungsschriften“ erlebten dagegen in „bereinigter Form“ immer neue Auflagen.
In dieser jungen Bundesrepublik bekam ich als Junge im Vorschulalter mit, dass die Eltern über einen eigenartigen Gruß sprachen. Die neugierige Frage ergab die vage Auskunft, dass „man das früher so gesagt“ habe. Ältere Leute würden das noch sehr gut kennen.
Später traf ich auf der Straße zwei Polizisten: Respektspersonen, ältere Leute, denen man sicher einen freundlichen Gruß entbieten könnte. Und so geschah es auch: den Tretroller zwischen den Beinen, schob ich auf die Uniformträger los und schmetterte ihnen ein fröhliches „Heil Hitler!“ entgegen. Allerdings gab es als Erwiderung nur einen strengen Blick und eine deutliche Ermahnung, das dürfe man nicht sagen, es sei verboten. Das war die erste Erfahrung mit „Sprachpolizei“, also mit dem, was heute in manchem Föhjetong als „politische Korrektheit“ problematisiert wird. Das Verbot des Wortes hatte glücklicherweise nicht die Folge, dass nun „erst recht“ das Verbotene praktiziert werden wollte; nur wenige Jahre später, im Bundestagswahlkampf 1969, als die NPD beinahe in den Bundestag eingezogen wäre, machte ich als Teenager meine ersten handgreiflichen Erfahrungen mit den besagten „älteren Leuten“ – eine andere Geschichte.
Das, was man Kindern erzählt, vorsingt, vorliest, unterliegt keinem literaturhistorischen Bestandsschutz. Was Eltern ihren Kindern beibringen, um sie in die Welt zu entlassen, ist Ausdruck ihrer Verantwortung, dass die Nachkommen in dieser Welt zurecht kommen, und nicht einer literaturfeindlichen „Sprachpolizei“.
Ins Rollen gebracht wurde die Überarbeitung der Kinderbücher vom eritreischen Flüchtling Mekonnen Mesghena, der einen Brief an den Verlag geschickt hatte. Vom Föhjetong-Papst Ulrich Greiner wurde Mesghena mit dem belehrenden Satz bedacht: „Er möge bedenken, dass alles Geschriebene dem Gesetz sprachlichen Altwerdens unterliege.“ Da sind sie wieder, die „älteren Leute“, die die alte Sprache schützen wollen und doch nur nicht das Wort, sondern das Alte, Hergebrachte, vom Wort Beschriebene verteidigen. Es war ein späterer Zufall, dass ich viele Jahre nach dem Missgeschick mit einem alt gewordenen Gruß zusammen mit Mekonnen Mesghena studierte, dem hier noch einmal für seine Initiative gedankt sei.